Blick in eine andere Welt – Voyeurismus im Film

Beitrag von Christopher 27.04.2022 5 Minuten 1

Im Grunde bedient jeder Film die menschliche Schaulust. Das bringt schon die visuelle Prägung des Mediums mit sich. Wenn wir einen Film streamen, tauchen wir in eine Welt ein. Werfen einen Blick durchs Schlüsselloch auf das Leben fiktiver Figuren. Sind für rund zwei Stunden nah an ihren Erfahrungen dran. Sollen mitfiebern, uns fallen lassen und vergessen, dass wir eine künstlich erschaffene Umgebung betreten. So ist es zumindest im von Hollywood beeinflussten Mainstream. Immer mal wieder gibt es aber auch Filme, die die voyeuristische Position des Betrachters und seine Neugier explizit thematisieren, uns mit dem zwanghaften Drang, genau hinzuschauen, konfrontieren und das Verhältnis Publikum/Leinwand kritisch reflektieren.

Die Ausstrahlung von Alfred Hitchcocks Voyeurismus-Klassiker «Das Fenster zum Hof» am 27. April auf one wollen wir zum Anlass nehmen, um einige Werke vorzustellen, in denen die Lust am Beobachten, wissenschaftlich Skopophilie genannt, eine prominente Rolle spielt.

«Das Fenster zum Hof» (1954)

Wer über Voyeurismus im Kino schreibt, kommt an Hitchcocks Meisterwerk aus dem Jahr 1954 nicht vorbei. Das Thriller-Melodram handelt von einem Fotoreporter namens L. B. Jefferies (James Stewart), den ein Beinbruch vorübergehend an den Rollstuhl fesselt und der aus Langeweile das Treiben im Nachbarhaus betrachtet. Sein Interesse nimmt schnell obsessive Züge an. Erst recht, als er glaubt, dass einer der Beobachteten einen Mord begangen hat. Besonders ist «Das Fenster zum Hof» schon deshalb, weil der Film bis auf wenige Ausnahmen die Perspektive des Protagonisten einnimmt und den Zuschauer damit unweigerlich an ihn, seine Hoffnungen und Wünsche bindet. Ständig blicken wir durch Jefferies‘ Augen, drücken ihm die Daumen, dass er Beweise für seine Vermutung finden möge, und bangen um ihn, als er tatsächlich in Gefahr gerät.

James Steward und Grace Kelly in Hitchcocks «Das Fenster zum Hof» © Universal Pictures International Switzerland

Der Fotograf, der für seine Observation ein Fernglas und das Teleobjektiv seiner Kamera benutzt, ist allerdings mehr als eine Identifikationsfigur, die uns durch die spannende Geschichte führt. Hitchcock spiegelt in ihm auch ganz konkret die Situation der Zuschauer. Ebenso wie Jefferies sind wir zur Passivität verdammt, sitzen in unseren Sesseln, starren gebannt auf die Leinwand und warten geradezu begierig darauf, dass etwas Aufregendes geschieht. Im Alltag würden wir uns wohl nicht als Voyeure bezeichnen. Hier begeben wir uns aber in eben diese Position, empfinden grosses Vergnügen und werden von Angstlust gepackt, wenn sich abzeichnet, dass Jefferies‘ Mordtheorie nicht abwegig ist.

«Die Truman Show» (1998)

Basierend auf einem klugen Drehbuch von Andrew Niccol entwirft Peter Weirs Tragikomödie «Die Truman Show» ein spannendes Szenario, in dessen Mittelpunkt sich mit dem Versicherungsangestellten Truman Burbank (Jim Carrey) ein Mann befindet, der unwissentlich Protagonist einer gigantischen Fernsehshow ist. Seit seiner Geburt begleiten ihn die Kameras des Produzenten Christof (Ed Harris), der eigens für die Serie unter einer gigantischen Kuppel eine idyllische Kleinstadt hat errichten lassen.

Ein Film aus den 90er-Jahren mit Weitsicht: Jim Carrey in «Die Truman Show» © Universal Pictures International Switzerland

Als eines Tages jedoch ein Scheinwerfer vor Truman auf den Boden knallt, fängt der lange ahnungslose Mann an, sein Dasein zu hinterfragen. Der satirisch gefärbte Film setzt sich mit der Manipulationskraft der Medien auseinander, nimmt die stetig wachsende Kommerzialisierung des Fernsehens ins Visier, wirft existenzialistische Fragen nach einem selbstbestimmten Leben auf und spielt geschickt mit den voyeuristischen Positionen. Immerhin blickt der Kinozuschauer im ersten Teil des Films durch die Kameras der von Christof orchestrierten «Truman Show» auf den Alltag der Hauptfigur und wird so in die Position der fiktiven Betrachter der Serie versetzt. In einer Zeit, in der Reality-Formate noch in den Kinderschuhen steckten, bewiesen Andrew Niccol und Peter Weir eine Weitsicht, über die man noch heute staunen kann.

«In ihrem Haus» (2012)

Doppelbödig und selbstreflexiv sind einige Filme im Werk des französischen Regisseurs und Drehbuchautors François Ozon. Besonders raffiniert geht es in der Bühnenadaption «In ihrem Haus» zu, die um den frustrierten Französischlehrer Germain (Fabrice Luchini) und seinen literarisch begabten Schüler Claude (Ernst Umhauer) kreist. Als Ersterer einen Aufsatz des Jugendlichen über dessen Besuch bei einem Freund namens Rapha (Bastien Ughetto) liest, ist er hellauf begeistert. Umgehend ermuntert er Claude, weiter in das Leben der Familie einzutauchen und davon in neuen Texten zu berichten.

Zwischen Realität und Fiktion: Fabrice Luchini und Ernst Umhauer in «In ihrem Haus» © Filmcoopi

«In ihrem Haus» ist ein satirischer Thriller, der auf gewitzte Weise mit dem Motiv des Voyeurs und der Neugier des Lesers bzw. Zuschauers spielt. Ist es gefährlich, sich seinen Imaginationen hinzugeben? Ab wann überschreitet der interessierte Beobachter Grenzen? Sind Romane und Filme nicht perfekt, um unsere im Alltag vielleicht nicht ausgelebte Schaulust zu befriedigen? Ozon schneidet viele spannende Gedanken an und umgarnt den Betrachter mit einem wendungsreichen, auch visuell vielschichtigen Film, der das Erzählen selbst zum Thema macht und dabei stets unterhaltsam bleibt.

Auf Cineman.ch findest Du noch 3 weitere Filme zum Thema Voyeurismus im Film: Jetzt weiterlesen.


Weitere Beiträge von Christopher